Sonntag, 28. Februar 2010

Das Schaudern

Gleich mehrfach begegnet es uns heute in den liturgischen Texten des 2. Fastensonntags - das Schaudern. Sei es nun Abraham, der im Schlaf von einer "großen, unheimlichen Angst" überfallen wird, oder seien es Petrus, Jakobus und Johannes, die auf dem Berg der Verklärung in die Wolke hineingeraten. Beim Hören dieser Texte musste ich heute morgen an eine sehr ergreifende Predigt denken, die mir mein ehemaliger Heimatpfarrer kurz vor meinem Ordenseintritt mit den Worten "vielleicht kannst du sie mal irgendwann irgendwo gebrauchen" gab. Und auf einmal wurde mir klar, dass irgendwann "heute" und "irgendwo" unser Blog sein könnte ;-)
Eine gute neue Woche, in der auch wir vielleicht da und dort das "Gruseln lernen" wünscht uns allen
Sr. M. Ursula

"Von einem, der auszog das Gruseln zu lernen
In der Märchenforschung ist man einhellig der Ansicht, dass mit dem Wort „Gruseln“ nicht gemeint ist, wenn jemand Gänsehaut bekommt, wenn jemand Blut sieht, oder wenn er kaltes Wasser überbekommt. Mit diesem Gruseln ist vielmehr das „Erschaudern“ gemeint; der scheinbar dumme Junge geht hinaus, weil er angegriffen und angerührt ist von den Geheimnissen des Lebens, er möchte erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dieses Angerührtsein von den letzten Geheimnissen des Lebens, das ist mit „Gruseln“ oder „Erschauern“ gemeint. Und die Heilige Schrift und die Urerfahrung der Menschen sind der Überzeugung, dass Menschsein nur gelingen kann, wenn wir uns diesem Schauer öffnen.
Niemand Geringerer als Goethe, der große Seelenkenner, hat dies im zweiten Teil des Faust gestaltet, wo Faust sagt: „Doch im Erstarren such’ ich nicht mein Heil, das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil, wie auch die Welt ihm das Gefühl verteuere, ergriffen fühlt er tief das Ungeheure.“
Abraham, von dem uns in der ersten Lesung berichtet wird, ist ein solcher Mensch, der nicht im Erstarren sein Heil gesucht hat, sondern im Erschaudern; der sich nicht von der Welt, von seiner Verwandtschaft verkaufen ließ, der sein Gefühl nicht wegdiskutieren ließ, sondern der ergriffen war von dem Flügelschlag der Ewigkeit, und daher das Ungeheure, das Unsagbare erlebt hat. Stellen wir uns diesen Abraham einmal vor, wie er seine Herden weidet, wie er unter klarem Sternenhimmel nachdenkt über Gott und über sich selbst. Da muss es gewesen sein, dass ihn der Windhauch der Ewigkeit gestreift hat. Das Unabdingbare, der Unbedingte hat ihn gerufen, und dieser Ruf bedarf keiner Begründung; er trifft Abraham in seinem Personenkern: Zieh weg, so wie bisher kann es nicht weitergehen. Deine Verwandtschaft, deine Familie wird dich für verrückt erklären, sie wird sagen, wie kann man sein bisheriges Leben aufs Spiel setzen und ins Ungewisse hineinziehen. Abraham war zu diesem Zeitpunkt immerhin schon um die 60 Jahre alt, er befand sich also auf der Höhe seiner Schaffenskraft; da hat er diese Krise erlebt, und er fragte sich: „Was soll eigentlich mein Leben, wo ich jetzt alles erreicht habe: ich habe Frau, natürlich keine Kinder, Knechte und Mägde und sehr viel Reichtum.“ Und in dieser Situation ist er dem unabdingbaren Ruf gefolgt, er hat sich von ihm locken lassen, es gibt kein zurück.
Gott spricht, und Abraham gehorcht. Die Schrift nennt das: Glauben. Glauben heißt: einem Ruf folgen, heißt: Antwort geben, heißt: sich vom Irdischen losreißen und sich am Absoluten festmachen. Glauben heißt nicht in der leeren Luft herumschwanken, Glauben heißt nicht Aussteigen um des Aussteigens willen, sondern heißt: das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen, und sich dort festmachen, wo die eigene Heimat ist.
"Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteuere, ergriffen fühlt er tief das Ungeheure. Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil" – immer wieder haben Männer und Frauen sich - ergriffen vom Ungeheuren - auf den Weg gemacht, haben etwas Unbekanntem, etwas in der Ferne Aufleuchtendem Raum gegeben. Das sind Erfahrungen im engeren Sinne, aber, so muss man hinzufügen, jede Berufung, auch in weiterem Sinne, steht unter dem Gesetz des „stirb und werde“. Diesen Windhauch der Ewigkeit, nennen wir es „Gott in uns“, haben nicht umsonst viele Dichter und Künstler erlebt, weil sie dafür eine Antenne haben. Wie ich die Welt anschaue, wie ich ins Leben hineinhöre, entscheidet schon über meinen Ruf und über meine Antwort.
Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil – sollte nicht auch das heutige Evangelium unter diesen Gesichtspunkten neu gehört werden? Christus ist noch viel mehr aus sich herausgegangen als Abraham. Mose und Elija gesellen sich in dieser Ekstase zu ihm. Die strahlende Christuserscheinung bedeutet: wer aus sich herausgeht, und sich selbst überschreitet, sieht sein Leben in einem größeren Zusammenhang, er verlässt die gewohnten Kreise, er sieht alles in einem neuen Licht, und er spricht mit Petrus: hier ist gut sein; aber er darf nicht verweilen, das Verweilen wäre ein Verfehlung. Der Weg geht weiter. Glauben heißt nicht sitzen bleiben, Glauben heißt nicht Zuschauer bleiben, sondern blitzartig den Weg sehen, und dann lange Strecken in Dunkelheit gehen.
Von einem, der auszog, das Gruseln zu lernen. Er kommt auf dem Höhepunkt des Märchens in das verwunschene Schloss, das voller Schätze ist und der Erlösung harrt. Doch die Schätze sind blockiert, böse Geister und Gespenster treiben ihr Unwesen. Ist dieses Schloss nicht ein Bild für unsere Erde, die voller Schönheit und voller verborgener Schätze ist, an die wir aber nicht herankommen? Das Gespenst des Krieges, der Hungersnot, der Verseuchung, sucht die Bewohner der Erde heim. Ist das nicht zum Aus-der-Haut-Fahren? Wer kann da ruhig sitzen bleiben? Doch im Erstarren such’ ich nicht mein Heil, das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil. Wer nicht mehr vor der Situation unserer Tage erschaudern kann, der soll sich lieber gleich begraben lassen. Erlösung geschieht durch die Menschen, die den Spuk bannen, die Abraham-Menschen, die Christus-Menschen, die die große Perspektive haben, die nicht zurückschauen, die nicht für sich selbst leben, die zum Segen werden für sich und für andere. Wer sein Leben festhalten will – das ist eine Form des Unglaubens – wird es verlieren, wer es aber wagt und hingibt, wird es für ewig gewinnen.
(Leo Schorr, Predigt am 17. März 1984)

1 Kommentar:

  1. "Es gibt nichts Größeres, als dass ein Mensch für andere ein Segen ist" Dietrich Bonhoeffer

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